11. Brief an den Hamburger Bürgermeister Tschentscher

von Dr. med. Manfred Nelting

Sehr geehrter Herr Dr. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister von Hamburg,

als gebürtiger Hamburger und Arztkollege möchte ich Ihnen Gedanken für Schritte zum Frieden im Ukraine-Krieg vortragen, die von Hamburg ausgehen könnten.

Hamburg hat ja Städtepartnerschaften zu den Hafenstädten St. Petersburg in Russland und zu Marseille in Frankreich. Die Partnerschaft zu St. Petersburg ruht aktuell, ist aber erfreulicherweise nicht aufgekündigt.

Vor kurzem ist die Partnerschaft zu Kiew entstanden, was ich befürworte. Aus meiner Sicht wäre allerdings eine Partnerschaft zu Odessa als Hafenstadt viel bedeutender, weil Odessa eine zentrale Rolle in einer zukünftigen Friedensordnung spielen könnte.

Ich habe hierzu vor kurzem eine Friedensutopie geschrieben, die ich diesem Brief beilege:

„Odessa – Kristallisationskern einer eurasischen Neuordnung im Friedensprozess“

Meine Vorstellung ist, dass die 4 maßgeblichen Hafenstädte von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland gemeinsam die Sprachlosigkeit beenden könnten, und zwar besonders im Bereich der Kultur aufeinander zugehen. Die Oper in Odessa hat gerade wieder eröffnet, unter extrem belastenden Umständen bis hin zu Bombenalarm und Raketenbeschuss, aber die Oper soll seitens der Musiker wieder offen sein, wirklich großartig und mutig.

Meine Idee geht weiter dahin, kulturelle Aktivitäten gerade jetzt auch wieder zu St. Petersburg aufzunehmen, selbst wenn es nicht zum gegenwärtigen Regierungshandeln passt. Die Städtepartnerschaft mit St. Petersburg ist ja zur Sowjetzeit 1957 vom damaligen ersten Bürgermeister Kurt Sieveking aufgenommen worden, und zwar gegen den Willen von Konrad Adenauer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier im gleichen Maße wie bei Adenauer Widerstände von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Wiederaufnahme partnerschaftlicher Aktivitäten zu Kulturschaffenden in St. Petersburg geben wird.

Es wird in jedem Falle in einem Friedensprozess Gespräche und Diplomatie geben müssen, ein wieder bestehender Kulturfaden zwischen St. Petersburg, der Geburtsstadt Wladimir Putins, und Odessa als uraltem Besiedelungskern, schließlich im Auftrag von Katharina der Großen als zentrale Hafenstadt am Schwarzen Meer gegründet, kann hier nur im Friedensprozess unterstützend und vor allem dann für die Aufarbeitung der Kriegswunden und -Traumata der zukünftigen Jahre versöhnlich sein. Denn wir brauchen keinen Frieden, der wenig später wieder zerbricht.

Kurz zu meiner Person:

Ich bin Allgemeinarzt und Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie, habe in Hamburg studiert und promoviert. Meine Frau und ich haben die Gezeiten Haus Kliniken gegründet, Akutkrankenhäuser für Psychosomatik und TCM. Wir haben u.a. eine große Psychotraumatologie sowie Kinder- und Jugend-Psychiatrie/Psychosomatik. Aktuell behandeln wir auch geflüchtete Menschen aus der Ukraine.

Meine Eltern sind schwer traumatisiert aus dem zweiten Weltkrieg gekommen, bei uns zuhause gab es eine ausgesprochene Russophobie, die ich allerdings in Kenntnis aller geschichtlichen Zusammenhänge in dieser Art nicht teile.

Als Arzt, Psychotherapeut und Familientherapeut habe ich gelernt in Konflikten immer beide bzw. alle Seiten anzuhören, da erzähle ich Ihnen als Arzt ja nichts Neues. Insofern sehe ich auch den so entstandenen Boden dieses Krieges, der von vielen Akteuren schlecht bestellt wurde. Streng einseitige Schuldzuweisungen führen nie zu Heilungen, wir werden Versöhnung brauchen und es alle besser machen müssen.

Hierzu gehört auch die Erkenntnis, dass wir andere Interessen haben als die USA, wie es Klaus von Dohnanyi in seinem kürzlich erschienenen Buch „Nationale Interessen“ sehr gut dargelegt hat. Für uns sind Russen und Ukrainer, anders als für die USA, eben auch Nachbarn und dies gilt es in einem würdigen Friedensprozess zu beachten und als Chance zu sehen, um die Blockbildungen der Großmächte entbehrlich zu machen.

In diesem Sinne möchte ich kurz auf Präsident Putin eingehen:

Putin wird als wahnsinniger Verbrecher und unberechenbarer Psychopath gesehen, aber ich möchte darauf hinweisen, dass ein Psychopath sich dadurch auszeichnet, dass er gerade in großer Rationalität planen kann, eben in der Regel nicht irrational handelt. Das Drama besteht eher darin, dass bei Psychopathen ein Handeln ohne „störende“ Emotionen möglich ist, wodurch z.B. menschliches Leid und Todesopfer als „Kollateralschäden“ gelten auf dem Weg zu den Zielen. Insofern findet man in der Geschichte aller Kriege immer Kriegsherren, die psychopathische Züge aufweisen.

Ob es sich bei Putin um Psychopathie handelt, kann ich aus der Ferne nicht zweifelsfrei beurteilen, wahrscheinlicher ist bei ihm eine transgenerationale Trauma-Weitergabe, die Mutter gehörte zu den Wenigen, die die über zweijährige deutsche Blockade von Leningrad von 1941 bis 1944, bei der die meisten Einwohner verhungert waren, überlebt hat, darüber hinaus hat sie zwei Kinder verloren.

Man wird mit Putin weiter sprechen müssen, eine Isolierung von Russland in der Welt kann nicht funktionieren und wird dem russischen Volk, den russischen Menschen nicht gerecht. Insofern sollte man, gerade auf dem Boden der deutschen Geschichte, hier mit der gemeinsamen aktiven Städtepartnerschaft von St. Petersburg und Odessa von Hamburg aus, der Freien und Hansestadt, ein versöhnliches Zeichen setzen und die Offenheit zwischen den Menschen betonen, gerade in Zeiten, wo sich die Administrationen vieler Länder offensichtlich verrennen und nicht wissen, wie sie aus den Sackgassen, siehe z.B. dem Drama der blockierten Weizenlieferungen, zurückkommen können. Hier braucht es kluge, weitsichtige Diplomaten und unkonventionelles, mutiges Handeln im menschlichen Aufeinanderzugehen. Das können Hafenstädte!

Ich danke Ihnen für das Lesen dieser Zeilen und der beigelegten Friedens-Utopie und freue mich, wenn Sie einen Antrag auf Städtepartnerschaft mit Odessa und die Wiederaufnahme der Aktivitäten mit St. Petersburg in die Bürgerschaft einbringen und diskutieren. Weitsichtige Hamburger haben schon oft wichtige Signale und Impulse für menschliches Kooperieren gesetzt.

 

Herzliche Grüße nach Hamburg

Manfred Nelting

 

Die genannte Friedensutopie zu Odessa findet sich hier im Blog unter der Nr. 10.

Übrigens: Nach einigen Wochen kam vom Amt des 1.Bürgermeisters eine eher nichts-sagende Antwort, ohne Bezug auf meinen Vorschlag. Man muss also an friedensstiftenden Impulsen dranbleiben.

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