11. Analog-digitale Balance

von Dr. med. Manfred Nelting

Die Digitalisierung in Deutschland ist laut OECD sehr rückständig, ebenso digitale Bildung und digitale Lernmöglichkeiten an Schulen. Insofern ist aktuell der Rufnach beschleunigter Digitalisierung laut und fordernd.

Dabei verbringen die heutigen Schulkinder als „digital natives“ bereits sehr viel Zeit in digitalen Medien, sind dabei digital-technisch versiert, jedoch vielfach ohne Eigen-Kontrolle bei der Nutzung und meist unbeaufsichtigt von den Eltern. Laut der aktuellen DAK-Studie 2023 in Zusammenarbeit mit dem UKE Hamburg nutzen
rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche digitale Medien problematisch, sie sind suchtgefährdet, davon 350.000 bereits mediensüchtig, mit steigender Tendenz.

Digitalisierung birgt in sich allerdings die einmalige und erstmalige Chance auf ein menschlicheres Leben, in dem Automaten und Roboter den Menschen harte Arbeit abnehmen und ihnen so Zeit ermöglicht für kreatives Arbeiten, Zeit fürKinder und Partner sowie für Freunde und Nachbarn, Gemeinwohlaktivitäten, Muße, Lebenspflege etc., also analoge Zeiten, mit Freude und Spaß im direkten sinnlichen Erleben und Lust darauf.

Wir alle müssen darauf achten, dass diese Chance nicht vertan wird und in Digitalisierung als algorithmischem Selbstzweck mündet und damit für menschliche Bedürfnisse endet.

Ein wichtiges Ziel in der Digital-Bildung ist insofern die souveräne Mediennutzung – die Medienresilienz. Das bedeutet, dass ich eine gute eigene Selbststeuerung habe bzw. entwickle, die mir erlaubt, die Medien (Fernsehen, Smartphone, Internet, Apps, Games, Virtual Reality, Internet der Dinge) in einer Weise zu
nutzen, dass ich

- auswählen kann, was mir wichtig ist,

- mir ein Zeitlimit vor dem Bildschirm setzen kann,

- also Kraft habe, dem Sog weiterzumachen zu widerstehen,

- zu einer inneren Klarheit komme, was am digitalen Angebot mir echte Freude macht bzw. tatsächlichen Gewinn auf einer mir wichtigen Ebene bringt,

- mir ausreichend analoge Zeit für Direktkommunikation, sinnliche Genüsse, Bewegung, Ruhe gönne, · also einen wesensnahen Lebensstil entwickeln kann, der im Einklang ist mit konkreten leibhaftigen Begegnungen mit Menschen und im Einklang mit der Natur, der Biosphäre.

Wie und wann entsteht nun Selbststeuerung?

Und da sind wir schon bei der Gehirnentwicklung in den ersten Lebensjahren der Kinder auf dieser Welt. Wenn sie gut gelingt, steht dem Kind im weiteren Leben viel Potenzial zur Verfügung auf dem Boden einer gut gebahnten Selbststeuerung, wenn nicht, ist die Impulskontrolle oft nicht ausreichend ausgebildet, was das
Gestalten der Mediennutzung eben schwierig macht und nicht selten einer Mediensucht den Weg bahnt. Auch zum eigenen Glück ist der Weg dann oft weit.

Digitalisierung, wenn sie eine dem Menschen dienende Technologie werden soll ohne Gefahr digitaler Überwältigung und anderer Gesundheitsgefahren, heißt im Zentrum also analog-digitale Balance jedes Einzelnen. Die analog-digitale Balance gehört als fester Bestandteil zur Digitalisierung, auch wenn das aktuell noch nicht als gesellschaftliches Ziel formuliert ist, wir müssen uns also darum kümmern.

Und was heißt das für unsere heutigen Kinder, die mit den digitalen Medien aufwachsen?

Vorbildfunktion der Eltern beim Aufwachsen mit den digitalen Medien

Hier möchte ich Karl Valentin ins Spiel und in Erinnerung bringen: Zitat: „Kinder brauchen keine Erziehung, sie machen sowieso alles nach!“

Dies bedeutet, dass die Vorbildfunktion der Erwachsenen, Eltern und Lehrer sowohl bei der Mediennutzung als auch in der konkreten Begegnung für die Kinder eine besondere Bedeutung hat.

Wie steht es mit dieser Vorbildfunktion?

Die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung schlecht schläft bis zur Schlafstörung, Stress und Erschöpfung ist „Allgemeingut“ und fast die Hälfte der Erwachsenen hat Bluthochdruck. Die meisten leben gestresst und gehetzt im „Außen“, innere Ruhe wird vielfach gesucht, kann aber trotz Yoga-, QiGong- und Meditations-Kursen im Alltag oft nicht nachhaltig umgesetzt werden, die Burn-out-Rate in mittlerweile allen Berufen steigt grotesk an. Schon viele Erwachsene haben selbst keine guten Voraussetzungen um ihr Leben zu meistern aufgrund von familiären
Vorbelastungen, z.B. transgenerationalen Traumata, Überforderung, Armut.

Zukunftsängste

Dazu kommen die Zukunftsängste (Klima, Corona, Krieg, Inflation und viele andere). Nur wenige Kinder erleben ihre Eltern noch in sich ruhend, in ihrer neutralen Mitte, Sicherheit und Geborgenheit gebend. Viele Erwachsene nutzen die digitalen Medien selbst ausufernd ohne gute Eigen-Kontrolle, wollen ihre Ruhe haben, empfinden den Alltag eher als grau, langweilig, sinnlos und lenken sich insofern ab. Das Handy entwickelt sich für die Kinder auf diesem Boden zusammen mit dem Zucker zur Super-Nanny, die digitalen Medien werden in der Folge als aufregender und spannender als das analoge Leben erlebt.

Ein anregendes und erfrischendes Erleben mit Menschen in direkter, warmherziger Begegnung findet seitens der Eltern immer seltener statt, nur in etwa der Hälfte der Familien.

Offline ist das Leben, das zählt!

Wenn die Kinder aber sehen, welche Freude die Eltern und Lehrer am analogen Leben haben, sind sie daran auch interessiert. Also suchen Sie doch mit den Kindern viele Aktivitäten und Herausforderungen in der sinnlich-realen Welt! Je mehr Freude das analoge Leben macht, je attraktiver es ist, desto einfacher wird es auch online. Denn dann ist der sinnlich begründete Dopamin-Schub des offline-Lebens der Dopamin-Ausschüttung bei Sofort-Befriedigung im Netz überlegen, u. a. auch, weil Erlebnisse mit allen Sinnen intensiver im Gedächtnis gespeichert werden.

Freude an analogem Leben lehren

Wir müssen also, wenn wir Digitalisierung z. B. an Schulen oder Unternehmen lehren, außer der Vermittlung von gekonnter Nutzung digitaler Medien vor allem auch die Freude und Kreativität an analogem Erleben gleichrangig lehren. Dazu gehören eben Begegnungen, sinnliches Wahrnehmen mit allen Sinnen wie beim Natur- und Tiererleben, aber auch von ästhetischen Faszinationen der Baukunst, von technologisch Sichtbarem, der Kunst der Darbietungen in Bild, Musik, Theater, Tanz und Sport im direkten Erleben, auch mal ohne Bild- und Video-
Aufnahmen mit dem Handy anzufertigen, und schließlich gehören dazu auch die Ruhe und Muße und der erholsame Schlaf, die im globalisierten Alltag leicht verloren gehen.

Schule im Wandel

Aber im Zentrum müsste hier stehen, dass die Beziehungsfähigkeit bzw. die Entwicklung dorthin von Schülern und Lehrern den Boden abgibt, auf dem kreatives digitales Lernen funktioniert. Der emotionale Kontakt der Schüler mit ihren begeisterungsfähigen Lehrern ist die Basis der Freude der Schüler am Lernen und des hirnphysiologisch möglichst guten Lernertrags und -erfolgs. Schule muss sich grandios wandeln in ihren Grundkonzepten, auch um digitalen Unterricht als Teil von Schule fruchtbar zu machen.

Und da die Anforderungen der Zukunft teilweise noch unscharf sind, sich noch nicht ganz deutlich herausgebildet haben, muss Schule sich auf eine große Flexibilität in den Lehrinhalten und Kommunikationswegen vorbereiten, die Lehrer müssen in guter, auch vegetativer Balance sein, um da mitgehen zu können. (siehe meine Kolumne „Presencing“ in Heft 1, 2023) Und die Schüler profitieren dann gerade von Lehrern mit guter Psycho-Sozial-Kompetenz, Begeisterungsfähigkeit und persönlicher Zufriedenheit mit der Fähigkeit zur eigenen Lebenspflege (siehe auch die Kolumne hier im Heft).

Ärztliche Sicht auf die heutige Mediennutzung

Empfehlungen der Kinder- und Jugendärzte für Eltern zum achtsamen Bildschirmmediengebrauch: „Neben den Chancen der Mediennutzung nehmen Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen auch die Schattenseiten dieser
Entwicklung wahr: Sie sehen zunehmend Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder, die sich beispielsweise nicht mehr konzentrieren können oder unter Schlafstörungen leiden. Spielen mit realen Dingen, Sprechen, Lesen, Künstlerisches, Bewegung im Freien, Schlafen und Schule werden häufig vernachlässigt. Die für die Förderung von Kreativität wichtige Langeweile und Ruhe kommen oft zu kurz. Zudem bedeutet technische Versiertheit keine Medienkompetenz (Hervorhebung durch den Autor). Wie man mit den Medien sinnvoll umgeht, sodass sie den Einzelnen nicht beherrschen, sondern Spaß machen und die reale Welt ergänzen, wissen Kinder meist nicht“ (BLIKK-Studie 2017).

Wir wissen auch, dass Kinder im Alter von acht bis elf Jahren nicht länger als zwei Stunden täglich vor dem Bildschirm verbringen dürfen, andernfalls sind sie sowohl geistig als auch körperlich weniger fit als Altersgenossen mit geringeren Zeiten. Die Auswirkungen sind also gravierend und dürfen nicht bagatellisiert werden.

Ein Gelingen braucht gute Randbedingungen, eben ausgeruhte, verlässliche Eltern, die dem neuen Erdenbürger initial eine dyadische Kommunikation ermöglichen (dyadisch: zwei in eins). Hier ist zukunftsfähige Familienpolitik
gefragt!

Pubertät als 2. Chance

Die vielen Kinder, die in ihren Familien keine ausreichende Selbststeuerung entwickeln konnten, haben in der Pubertät eine sogenannte zweite Chance hierfür. Die Schulen müssen dies als gute Chance aufgreifen und hilfreich unterstützen. Ob man hierfür besondere „Mental Coaches“ braucht oder die Lehrer sich selbst in dieser Funktion sehen, dazu läuft ja aktuell eine wichtige Diskussion.

Fazit:

Gelingende Bindungsfähigkeit und Selbststeuerung schützen Kinder und Jugendliche stark vor Manipulation, Drogenkonsum und medialer Überwältigung, sie sind dann kaum empfänglich für extremistische Positionen. Sie haben so die Chance als Erwachsene tolerant, liebevoll, kraftvoll und kreativ im Leben zu agieren, beste und notwendende Voraussetzungen zu klugem, kooperativem Handeln in diesen Umbruchs- und Krisenzeiten.

Schule kann hier bedeutsam wirken, wenn sie sich umfassend wandelt. Die Erfahrung bzw. Wiedererlangung eines spannenden und befriedigenden analogen Lebens gibt uns dabei guten Boden im Zeitalter der Digitalisierung.

Text: Manfred Nelting

Dieser Blog ist auch erschienen als Beitrag im Magazin „Schule – pro Bildung“, Heft 3/2023, S. 61.ff.

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